Inflation der Befehle, Inflation des Wissens
Am Anfang war HTML, und HTML bestand aus einer oder zwei Handvoll Tags. Der Boom entstand, weil die Leute schnelle Lernerfolge hatten. Irgendwann kam eine Sprache namens LiveScript dazu, die kurze Zeit später in JavaScript umbenannt wurde, weil es nämlich außerdem eine neue Sprache namens Java gab, an deren genialem Konzept man sich orientieren wollte. Die Zeitschriften berichteten natürlich eifrig über die Neuigkeiten und verbreiteten allerhand wichtige Nachrichten („Java wird HTML ablösen“). Und schon gab es ein paar Probleme: erstens konnten die Leute Java und JavaScript nicht richtig auseinander halten, und zweitens wußten sie nicht mehr genau, wofür HTML da war, geschweige denn, wofür Java und JavaScript gedacht waren.
Die schlichten Geister gewöhnten sich daran, vorläufig weiter HTML zu lernen und sich hin und wieder mal an einem JavaScript zu versuchen. Man mußte also noch mehr tun. Glücklicherweise waren die Leute mit HTML unzufrieden, so daß es genügend Anlaß gab, um Neues in die Welt zu setzen. Zunächst baute man das logische HTML zu einer Layoutsprache aus, dann riß man die neuen Stockwerke wieder ab und verlagerte das Layout in eine neue Sprache namens CSS. Für „Profis“, die sich nicht mehr mit Brot-und-Buttersprachen wie HTML abgeben wollten, mußten aber gleichzeitig neue, verheißungsvolle Formate her. XML entstand, XSL, abgeleitete Sprachen wie SMIL, HDML, MathML, UML kamen dazu. Endlich auch neues Futter für die Zeitschriften („XML wird HTML ablösen“). Von ActiveX und Java-Beans war schon gar keine Rede mehr.
Die schlichten Geister waren verunsichert, lernten aber weiterhin stur und brav ihr HTML, ließen sich nicht vom Glücksgefühl der Lernerfolge abbringen. Also weg den Fokus von der Client-Seite und hin zur Server-Seite: Dort bot das HTTP-Protokoll zunächst die CGI-Schnittstelle an. Das konnte natürlich nicht so bleiben. Das Ergebnis nach ein paar Jahren: LiveWire, Servlets, ISAPI, MSAPI, PHP, HTMLScript, um nur einige wenige Schlagwörter zu nennen.
Fazit: es gibt eine massive Inflation an Technologien, Befehlen und Sprachen für das Web. Die Vermehrung steht in keinem Verhältnis zu den Problemen, die es nach den Anfangserfolgen von HTML und HTTP zu lösen galt. Wie auch in anderen Lebensbereichen hat sich im Bereich der Web-Technologien der für das 20. Jahrhundert typische Strudel entwickelt: ein Problem, zehn Lösungen, zehn neue Probleme, hundert neue Lösungen. Gedient ist damit dem wirtschaftlichen Fortschritt, aber nicht dem geistigen. Denn geistiger Fortschritt besteht darin, mit einem möglichst einfachen Prinzip möglichst viele Probleme zu lösen (HTML+HTTP waren deshalb ein typisch geistiger Fortschritt).
Generalisierungswahn und Komplexitätsinteresse
Welches sind aber die Antriebskräfte, die Menschen des zuende gehenden 20. Jahrhunderts zu ihrem typisch inflationären Verhalten beim Entwickeln neuer Technologien veranlassen? Es ist sicherlich nicht nur eine Kraft, sondern ein Mix aus Einzelkräften. Zwei dieser Einzelkräfte sollen hier genannt sein:
Generalisierungswahn
Der deutsche Tourist schwärmt gerne davon, wie ihm bei einer Spritztour ins anatolische Hinterland ein Einheimischer allein mit Kautabak ein Problem unter der Motorhaube gelöst hat. Nach dem Urlaub beginnt jedoch wieder der Ernst des Lebens: technische Probleme werden generalstabsmäßig angegangen. Denn ein Problem steht nie für sich allein, sondern gehört einem weiteren Kreis von Problemen an, für die es eine umfassende Lösung zu entwickeln gilt. Dazu sind Kooperationen, Workflow-Management und Verteilung von Aufgaben erforderlich. Da alle Beteiligten eifrig arbeiten, aber nicht den Überblick über das Gesamtprojekt haben, müssen die Einzelergebnisse koordiniert, disponiert und integriert werden. Am Ende steht ein Lösungskonzept. Leider haben andere Abteilungen gleichzeitig vergleichbare Lösungskonzepte entwickelt. Ein konzeptübergreifendes Gesamtlösungspaket muß deshalb geschnürt werden.
Das alles mag seine Berechtigung haben. Aber die folgende Frage ist erlaubt: steht ein Problem wirklich nie für sich allein? Ist es nicht einfach der Hegel in uns allen, der uns andauernd einredet, alles müsse in der Synthese eines Größeren aufgehen?
Komplexitätsinteresse
Der deutsche Tourist erzählt auch gerne, wie wohl er sich bei jenem Mönch gefühlt habe, der ihm mit der Freude eines kleinen Kindes sein Kloster gezeigt und ihm anschließend bei einer Schale Tee seine Kräuterrezeptur gegen Erkältung verraten habe. Auch damit ist es vorbei, wenn der Urlaub zu Ende ist. Was jeder in kürzester Zeit erlernen kann, unterwandert die Interessen des Marktes. Verkaufen läßt sich schließlich nur, was einfacher zu bezahlen als selbst zu machen ist. Ein ordentlicher Fernseher kostet zwar immer noch schnell ein halbes Monatsgehalt, aber wer hat schon so viel Zeit, sich selber einen zu basteln? Schließlich muß man ja hart arbeiten, um am Monatsende sein Gehalt zu haben. Wovon man sich dann Dinge wie Fernseher kaufen kann…
Klar zu sehen: einfache Dinge passen in diesen Kreislauf einfach nicht hinein. Alles, was verdächtig einfach ist, muß schnellstens verkompliziert werden. Dann aber ist es nicht mehr nur nicht marktfeindlich, sondern sogar marktfördernd.
Koyaanisqatsi des Web-Authorings
Sucht man in einer großen Suchmaschine nach Know-How zu HTML und folgt den Suchtreffer-Links, gerät man in einen Strudel, der alsbald an die zeitgerafften, von hektischen Intervallklängen begleiteten Wurstabfüll- und Rolltreppenbilder aus dem Film Koyaanisqatsi erinnert, der Mitte der 80er Jahre versuchte, mit solchen Bildern und Klängen den Zustand der westlichen Gesellschaften sinnfällig darzustellen.
Nun ist HTML, wie das Phänomen Hypertext überhaupt, ebenfalls schon eine Konsequenz aus der Vorstellungswelt des 20. Jahrhunderts, die sich in einem exponentiell wachsenden Wissensmeer irgendwie orientieren mußte. Hypertext bricht herkömmliche, lineare Textstrukturen auf und überläßt es dem Anwender, zu entscheiden, welche Informationen er überhaupt aufnehmen will, und in welcher Reihenfolge er sie aufnehmen will. Das WWW mit seinen ursprünglichen Grundpfeilern HTML und HTTP ist nichts anderes als eine Lösung, die das Hypertextprinzip mit den Möglichkeiten des Internets verband.
HTML und HTTP waren also nicht zuletzt Mittel, um die Komplexität des modernen Wissensmeeres besser zu bewältigen. Mit einem feinen, organischen Gewebe aus Dateien und Befehlen zwischen kommunizierenden Internet-Rechnern sollte ein System aus nachvollziehbaren Straßen, Wegen und Pfaden geschaffen werden.
Mittlerweile ist das Web eher eine zusätzliche Flut im immer weiter wachsenden Wissensmeer, selber Gegenstand für Heerscharen von Know-How-Trägern und Wissensarbeitern. Keine Lösung mehr, sondern selbst ein Problem, für das Lösungskonzepte gefunden werden müssen. Vor den Augen eines Zuschauers lösen sich die Wahrnehmungen irgendwann auf. Aus einem stillen Strudel löst sich ein Einzelteil, segelt in Zeitlupe immer tiefer, bis es dunkler wird, und plötzlich ist da wieder die Höhle mit den alten Zeichnungen, in der alles begann: Koyaanisqatsi.